Interdisziplinäres Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit Franziska Sprecher (Institut für öffentliches Recht)
Gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds (Nr. 100011_184880), 2019-2023
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden Fragen und Interventionen um die Grenzen des Lebens vermehrt mit Ethik adressiert. Diese Entwicklung hat sich seit den 1980er Jahren in den westlichen Gesellschaften verdichtet und manifestiert sich bis heute in vielen Formen – sei es als Medizin-, Bio- oder klinische Ethik oder jüngst als Neuro- oder Ökoethik –, so dass bereits von einem ‚ethical turn’ die Rede war. Der Medizin- und Bioethik moderner Prägung wohnt jedoch eine Ambivalenz inne: Zum einen problematisiert sie Themen, Technologien und Interventionen der Medizin und Biotechnologie, zum andern stellt sie auch Verfahren bereit, die für diese legitimierend wirken und Vertrauen herstellen. Damit geraten die konkreten Operationslogiken und Funktionen der Ethik in den Blick, die anhand der These eines Übergangs von einem an Statistik orientierten ‚governing by numbers’ hin zu einem an Werten und Normen orientierten ‚governing by values’ untersucht werden.
In der historischen Perspektive wird deutlich, dass Ethik Verschiebungen vornimmt, die mit dem linearen Narrativ, dass neue Technologien neue Fragen aufwarfen, nur unzureichend beschrieben wurden. Vielmehr gerieten seit den ausgehenden 1960er Jahren auch zuvor soziale, politische oder wissenschaftliche Fragen in den Zuständigkeitsbereich der Ethik, ein Prozess, der als Moralisierung westlicher Gesellschaften beschrieben wurde. Im Rückgriff auf zentrale Entwicklungen der jüngeren Geschichte – wie dem Aufstieg der Figur des Experten, dem Vertrauensverlust in etablierte medizinische und wissenschaftliche Verfahren aufgrund sozialer Bewegungen sowie neuen Formen der Regulierung – untersucht das Forschungsprojekt die schweizerische Medizin- und Bioethik in einer dezidiert historischen Perspektive.
Es kann dafür auf den bisher unbearbeiteten, umfassenden Quellenbestand der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zugreifen. Diese hat sich seit den 1960er Jahren zur zentralen Schaltstelle für medizin- und bioethische Fragen in der Schweiz entwickelt, die zunächst vor allem fachintern, im Laufe der Jahre jedoch mit wachsender Ausstrahlung in die Politik, die Gesetzgebung und mediale Öffentlichkeit ethische Fragen verhandelte und normsetzende Richtlinien ausarbeitete.
Das Forschungsvorhaben ist in drei Teilprojekte gegliedert: Ein historisches Dissertationsprojekt untersucht ethische Grenzaushandlungen in der klinischen Forschung zwischen Experiment und Therapie. Ein zweites historisches Projekt erforscht menschliches Material und damit verbundene Abwägungen zwischen ökonomischem Wert und normativen Werten. Ein rechtshistorisches Dissertationsprojekt widmet sich der Genese von Normen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, Verfahren der Normgebung und deren demokratischer Legitimation. Das Forschungsprojekt untersucht somit eine für die Schweiz bisher weitgehend unerforschte Geschichte, die über die Landesgrenzen hinausweist: Am Beispiel der schweizerischen Bio- und Medizinethik werden Prozesse der Ethisierung, Wertgebung und Normsetzung im Kontext eines Hochtechnologie- und Forschungsstandortes und einer Regierungsweise der niederschwelligen Aushandlung greifbar.
Projektleitung: Franziska Sprecher, Hubert Steinke, Magaly Tornay
Wiss. Mitarbeiterinnen: Izel Demirbas, Marina Rickenbacher
Austauschpartner: Andreas Frewer (Erlangen), Petra Gehring (Darmstadt), Noorje Jacobs (Maastricht), Rouven Porz (Bern), Duncan Wilson (Manchester)
Gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds (Nr. 100011_184880), 2019-2023
mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)